Immer mehr Verbraucher:innen schätzen Plattformen wie Temu, Shein und Co. Nun hat sich der Online-Marktplatz Temu außerdem für europäische Seller geöffnet. Nicht ohne Grund gibt es seitens der Politik und Handelsverbände derzeit massiven Druck, Maßnahmen gegen den Strom günstiger Produkte auf dem hiesigen Markt zu unterbinden und keine Verluste bei Steuereinnahmen einzufahren.
Inwieweit sich Händler:innen in diesem Jahr auf diese Wettbewerber einstellen müssen, mit welchen Mitteln diese ihre Produkte vermarkten und was man somit auch von ihnen lernen kann, erläutert Prof. Dr. Renata Thiébaut im Interview. Die Expertin für grenzüberschreitenden E-Commerce, digitales Marketing und digitale Regulierung verrät zudem, auf welche Player die hiesige Händlerschaft aktuell ebenfalls ihr Augenmerk richten sollte.
OnlinehändlerNews: Inwieweit werden Anbieter wie Temu, Shein und Co. im diesjährigen Weihnachtsgeschäft eine Rolle spielen? Welche Konkurrenz erwartet die hiesige Händlerschaft?
Renata Thiébaut: Die Landschaft des elektronischen Handels hat sich in den letzten Jahren drastisch verändert, und es kommen ständig weitere neue Akteure hinzu. AliExpress war lange der einzige chinesische E-Commerce-Händler, der mit Amazon konkurrieren konnte. Die Plattform richtet sich auf Auslandsmärkte und ist besonders in Russland, Spanien und Brasilien erfolgreich.
Shein hingegen nutzt das Modell des „Echtzeit-Einzelhandels“ und setzt auf datenbasierte Algorithmen, um die Nachfrage besser zu verstehen. Mit einem Fokus auf schlanke Lieferketten bietet Shein trendige Kleidung, Schuhe und Accessoires zu sehr niedrigen Preisen an. Temu, bekannt als Pinduoduo in China, hat sich durch sein „Team Purchase-Modell“ und Live-Commerce einen Namen gemacht. Diese Plattformen, insbesondere Temu, haben sich im E-Commerce-Markt hervorgetan, und das Weihnachtsgeschäft dürfte für sie besonders lukrativ werden.
TikTok verfolgt, ähnlich wie sein chinesisches Pendant Douyin, ein Geschäftsmodell des Live- und Social-Commerce und könnte sich nach Konflikten mit Regierungen auf die Verbesserung seiner E-Commerce-Marktplätze konzentrieren.
Worauf müssen sich Händler:innen hierzulande somit einstellen?
Da Verbraucher:innen auf der Suche nach Produkten mit dem besten Preis-Leistungs-Verhältnis sind, sind Plattformen wie Temu für Kundinnen und Kunden auf der ganzen Welt dank vergleichsweise niedriger Preise eine der besseren Optionen. Die Plattformen neigen zudem dazu, in den wichtigsten Werbekampagnen des Jahres mehrere Marketingmaßnahmen und Rabattmechanismen einzusetzen, und das wird auch dieses Weihnachten nicht anders sein.
Hohe Preisdifferenz zwischen den Angeboten
Welche Strategien können lokale Händler:innen verfolgen, um sich gegen die Preispolitik der chinesischen Anbieter zu behaupten?
Ein schneller Preisvergleich zeigt, dass bei Produkten, die sowohl bei Amazon als auch bei Temu oder AliExpress erhältlich sind, eine Preisdifferenz zwischen fünf Euro und 30 Euro besteht. Es besteht ein höheres Vertrauen westlicher Verbraucher:innen in eine westliche bzw. amerikanische Plattform. Daher sind sie auch bereit, dort mehr für bestimmte Produkte zu bezahlen. Außerdem sind sie möglicherweise prinzipiell nicht gewillt, die chinesischen Wettbewerber zu unterstützen.
Da jedoch immer mehr Verbraucher:innen auch mit den chinesischen Plattformen gute Erfahrungen machen und Alternativen zu etablierten E-Commerce-Plattformen wie Amazon, Otto und Zalando finden, müssen Handelsunternehmen ihre Preisstrategie, ihr Sortimentsangebot und ihre Dynamik innerhalb der Plattform durch mehr Rabatte und eine bessere Integration in die sozialen Medien neu ausrichten.
Was können europäische Händler:innen von den chinesischen Anbietern lernen?
Der Hauptunterschied zwischen chinesischen und westlichen Marktplätzen besteht in den Werbeaktionen. Wenn Sie sich auf den chinesischen Marktplätzen umsehen, werden Sie gleich mehrere Maßnahmen sehen, mit denen Verbraucher:innen angelockt werden sollen, z. B. eine Art Tombola, Gutscheinrabatte und weitere Rabatte, um nur einige zu nennen. Die Verbraucher:innen müssen keinen Gutscheincode eingeben, da das System alle möglichen Rabatte automatisch auf der Grundlage der in den Warenkorb gelegten Waren berechnet.
Viele Rabattaktionen könnten zwar von einigen „altmodischeren“ Kund:innen als überladen oder verwirrend empfunden werden, lösen aber letztendlich bei vielen von ihnen das Gefühl aus, etwas zu verpassen (FOMO, Fear of missing out) und motivieren sie dadurch zum Kauf.
Westliche Marktplätze wie Amazon, Otto und Zalando werden ihr Geschäftsmodell bald diversifizieren müssen, vor allem wenn sie anfangen, die ersten Marktanteile zu verlieren. Berichten zufolge baut Amazon sein Netzwerk mit chinesischen Verkäufern bereits aus, um mit Temu konkurrieren zu können.
Zollbetrug? Länder müssen sich gegen Billigströme rüsten
Inwieweit nutzen Anbieter wie Temu und Shein Ihrer Ansicht nach rechtliche Schlupflöcher, um sich Wettbewerbsvorteile zu verschaffen? Könnten politische Maßnahmen für mehr Fairness im Wettbewerb sorgen?
Die Einfuhrsteuer auf Produkte des grenzüberschreitenden elektronischen Geschäftsverkehrs sind in vielen Ländern ein großes Thema. Brasilien beispielsweise hat gerade eine Einfuhrsteuer von 20 Prozent auf internationale Online-Käufe unter 50 Dollar eingeführt. Zuvor waren solche Importe steuerfrei. In vielen Ländern ermöglicht das de-minimis-Schlupfloch ein vereinfachtes Zollverfahren mit geringer bis gar keiner Kontrolle und Zollfreiheit unterhalb eines bestimmten Schwellenwertes.
Dennoch würde ich den Plattformen nicht unterstellen, dass sie diese Schlupflöcher ausnutzen. Ich gehe eher davon aus, dass diese Länder immer noch nicht gut genug gerüstet sind, um den Strom von Billigartikeln aus dem Internet zu überwachen und zu regulieren. Gleichzeitig zeigt dies, dass Verbraucher:innen bereit sind, online im Ausland einzukaufen, entweder mangels Alternativen oder wegen zu hoher heimischer Preise.
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