Es gibt viele Fälle von sozialem Fehlverhalten, bei denen es sich um Lappalien handelt: Jemand drängelt sich vor, überquert trotz roter Ampel eine Straße, stellt seinen Rucksack im vollen Zug auf seinen Nebensitz. Was höchstens für kurzfristigen Ärger bei den Mitmenschen sorgen könnte, wird in China strenger geahndet – zwar nicht direkt mit spürbaren Mitteln, aber mit sozialen Nachteilen. „Citizen Scoring“ oder auch „Social Credit System“ nennt sich das System, bei dem soziales Fehlverhalten bestraft und vorbildliches Benehmen belohnt wird. 

Erste Tests in mehreren Regionen

Dazu setzt das Land auf ein umfangreiches Überwachungssystem, wie auch die Taz bereits im Jahr 2018 berichtet hat: „Die Technik soll selbst aus einer unüberschaubaren Masse jeden Einzelnen sofort identifizieren können. Eine digitale Diktatur“, erklärt das Magazin. Und während die am Bahnhof Berlin Südkreuz derzeit getestete Gesichtserkennung misstrauisch beäugt wird, ist diese Technologie in Chinas Hauptstadt Peking Alltag. „In U-Bahnhöfen, Einkaufszentren, auf belebten Straßen – zu Hunderten hängen die intelligenten Kameras an Pfeilern oder Straßenlaternen der chinesischen Hauptstadt und erfassen alles, was an ihnen vorbeiläuft oder -fährt“, so die Taz

In Versuchsregionen, die über das ganze Land verteilt sind, wird „Citizen Scoring“ bereits erprobt. Bürger werden im Grunde von dem Staat benotet. Doch während die Regierungsbehörden die Punkte vergeben, erhalten sie die Daten mitunter von privatwirtschaftlichen Unternehmen. So lasse sich auch das Surfverhalten der Nutzer auswerten. Dabei ist der Punktestand an sich keineswegs geheim: Über eine Smartphone-App könne sich jeder über den eigenen Score informieren. Und dieser wird auch Arbeitgebern, Vermietern, Online-Shops und Reiseveranstaltern preisgegeben. Das System funktioniert allerdings nicht landesweit: Jede Region hat ihre eigenen Kriterien, Systeme und Vorgehensweisen, um den „Citizen Score“ zu berechnen. 

Gehirnwellenmessung in der Schule

Eine Schule in Shanghai treibt dieses System nun weiter voran: Wie Golem.de berichtet, habe das US-amerikanische Wall Street Journal die Schule besucht und festgestellt, dass die Kinder dort mit GPS-Trackern in ihren Uniformen und Gehirnwellenmessgeräten auf den Köpfen ausgestattet werden. Zudem befänden sich in den Klassenräumen wieder Kameras mit Gesichtserkennungssoftware, um die Schüler identifizieren zu können. Das vermeintliche Ziel: Die Noten der Schüler sollen sich verbessern.

Die Daten der Gehirnwellenmessgeräte werden beispielsweise an den Hostcomputer der Lehrkraft gesendet, die so direkt sehen könne, welche Schüler sich auf die Aufgabe konzentrieren und wer nicht ganz bei der Sache ist. „In einer Zusammenfassung wird die Leistung der gesamten Klasse zusammengefasst, inklusive der Konzentrationslevel einzelner Kinder“, berichtet Golem.de. „Einzelne Berichte können dann miteinander verglichen werden. Eltern sehen die Zusammenfassung auf ihren Smartphones und haben immer und überall eine Übersicht, welche Leistungen ihre Kinder in der Klasse erbringen.“

Doch obwohl die verwendete EEG-Technologie fehleranfällig sei und erste Kinder bereits von erhöhtem Druck sprechen, verteidigt eine Lehrerin das Konzept. Die Kopfbänder seien ihrer Meinung nach ein Anreiz, sich mehr anzustrengen – erste Verbesserungen bei den Noten habe sie deshalb schon festgestellt. Auch die Eltern befürworten das Experiment – „wohl mit der Hoffnung, ihre Kinder in der Schule besser dastehen zu lassen“, so Golem.de.

Alibaba nutzt Kundendaten zur Bewertung

Dass die Kinder direkt an die Technologie gewöhnt werden, dürfte wenig überraschen. Auch die Konsumindustrie nutzt im Übrigen bereits das „Citizen Scoring“ für ihre Zwecke. Alibaba betreibt beispielsweise mit seinem Dienst Sesame Credit ein umfassendes Bewertungssystem seiner Kunden, so die Taz. Wer zehn Stunden am Tag vor dem PC sitzt und Videospiele spielt, sei vermutlich nicht sehr agil, argumentiert laut Taz Li Yingyun, Mitarbeiterin bei Sesame Credit. Wer aber häufiger Biogemüse online bestellt, sei verantwortungs- und gesundheitsbewusst. Und schon winken Pluspunkte, sowie Belohnungen wie beispielsweise günstigere Flugreisen oder andere Vorteile.

Alibaba verwendet die Daten aber offenbar nicht nur für eigene Zwecke: Nach eigenen Angaben stellt der Konzern die – von fast 800 Millionen Kunden – erhobenen Daten bereits Behörden und Banken zur Verfügung. Wie Wired UK berichtet, hole der Konzern dafür aber die Zustimmung der Nutzer ein. Der WeChat-Betreiber Tencent soll an einem ähnlichen System arbeiten. WeChat ist in China eine der beliebtesten Apps, die für zahlreiche Dinge genutzt wird. So tätigen viele Nutzer auch Zahlungen über die App, die allesamt erfasst und gespeichert werden. 

Die Grenzen verschwimmen

Experten wie Samantha Hoffman vom Australian Strategic Policy Institue warnen unterdessen eindrücklich davor, ähnliche Systeme in demokratischen Ländern zu integrieren. „Der Westen sollte keinen Aspekt des ‚Social Credits‘ kopieren. Häufig wird ein Vergleich zu privaten Unternehmen wie Uber und seinem Bewertungssystem für Fahrer und Kunden herangezogen. Doch während diese Systeme in meinen Augen extrem problematisch sind, funktionieren sie grundlegend anders“, so Hoffman laut Wired UK. „Es gibt nichts im ‚Social Credit System‘, über das ein liberales, demokratisches Land nur nachdenken sollte, es zu kopieren.“

Obwohl die behördliche Datenerhebung und die Erfassung durch Privatunternehmen wie Alibaba bislang noch nicht Teil eines übergreifenden Systems sind und jede Region ihre eigenen Kriterien für die Bewertung hat, zeigt der Vorgang, dass die Grenzen inzwischen verschwimmen. Durch die große Datenmenge und die Arbeit der Algorithmen im Hintergrund dürfte den wenigsten Menschen klar sein, wie genau ihr Ranking zustande kommt. Sollten die Systeme irgendwann übergreifend vereinheitlicht werden, dürfte sich dieser Effekt verstärken – wie genau das „Social Credit System“ in China am Ende aber aussehen könnte, ist bislang noch völlig unklar.