Lange Zeit blieb der Boom im E-Grocery aus. Schon Ende 2019 stieg die Nachfrage aber bereits stark an. Mit der Corona-Pandemie explodierten dann die Zahlen. Der Wendepunkt für den Online-Lebensmittelhandel ist damit erreicht. Für Lebensmittelhändler gilt es, die logistische Infrastruktur schnell anzupassen. Glücklicherweise gibt es bereits innovative und funktionsfähige Modelle für die Zukunft des E-Grocery.

Der E-Commerce wuchs in den letzten zehn Jahren stark an und ist heute weltweit für rund 20 Prozent des Gesamtumsatzes im Einzelhandel verantwortlich. Diese Werte beziehen sich vor allem auf Konsum-, aber auch auf Investitionsgüter unterschiedlichster Art. Von dieser Entwicklung weitgehend unberührt blieb lange Zeit der Lebensmittelsektor. So wurden zum Beispiel in den USA bis zum Jahr 2019 lediglich drei Prozent der Lebensmittelausgaben online getätigt. Doch das hat sich geändert – und nimmt weiter Fahrt auf. 

Schon vor der Corona-Pandemie bis Ende 2019 und darüber hinaus im ersten Quartal 2020 stieg die Nachfrage nach E-Grocery-Dienstleistungen enorm. Dies bestätigen die Prognosen vieler Analysten, die der Lebensmittelbranche einen Online-Boom voraussagen, wie ihn andere Einzelhandelssektoren bereits seit längerem erleben:

  • Im Herbst 2019 registrierte Brick Meets Click für die USA ein Umsatzwachstum im Online-Lebensmittelhandel auf einen Stand von 15 Prozent.

  • Nielsen und die Food Industry Association halten es für möglich, dass US-Bürger bis zum Jahr 2022 Nahrungsmittel und Getränke im Wert von jährlich 100 Milliarden US-Dollar online einkaufen. Dies entspricht in etwa einer Ausgabe von 850 US-Dollar pro Haushalt pro Jahr.

  • Für Europa schätzt IGD (The Institute of Grocery Distribution) aus Großbritannien, dass der Online-Lebensmittelhandel bis zum Jahr 2023 um 66 Prozent steigen wird.

Der Einfluss von Covid-19

Diese sehr positiven und ambitionierten Wachstumsprognosen werden durch Covid-19 sogar noch in den Schatten gestellt. Die Pandemie hat die Online-Nachfrage nach Lebensmitteln seit Ende des ersten Quartals 2020 exorbitant in die Höhe getrieben. Acosta Sales & Marketing, Vertriebs- und Marketingunternehmen für den Konsumgutsektor aus den USA, führte Ende März 2020 eine Umfrage durch. Demnach haben 65 Prozent der Verbraucherinnen und Verbraucher in den Vereinigten Staaten von Amerika ihr Einkaufsverhalten pandemiebedingt umgestellt und online geordert. Diese Entwicklung hat die daran geknüpfte Logistik sehr schnell an ihre Grenzen gebracht. Fast über Nacht stiegen in einigen US-Regionen die Lieferzeiten für E-Grocery-Bestellungen von einem Tag (Same-Day-Delivery) auf eine Woche und mehr.

Strategien für das E-Grocery-Fulfillment der Zukunft

Als Folge dessen ist es Zeit, über neue Strategien nachzudenken und innovative Konzepte umzusetzen, mit denen das E-Grocery-Fulfillment in Zukunft optimiert und auf volatile Nachfrage flexibel ausgerichtet werden kann. Drei grundlegende Modelle sind denkbar:  Hub-and-Spoke, Instore (Bolt-on) und Micro-Fulfillment.


Hub-and-Spoke

Der Hub-and-Spoke-Ansatz ist sowohl für die Stadt als auch für den ländlichen Raum geeignet. Er basiert darauf, dass mehrere Lebensmittelhändler an ein zentrales automatisiertes Fulfillment-Center (Hub) angeschlossen sind. Wie die Speiche (spoke) eines Rades ist jeder Händler um das Fulfillment-Center angeordnet. Im Hub werden Online-Bestellungen zentral für alle haltbaren, nicht schnell verderblichen und ungekühlten Waren zusammengestellt und an die lokalen Geschäfte geliefert. Der Einzelhändler selbst kommissioniert nur noch Frischewaren, gekühlte oder tiefgekühlte Lebensmittel und konsolidiert seine Aufträge zusammen mit den Hub-Lieferungen. Nach Fertigstellung des Auftrags steht die Ware für den Konsumenten zur Abholung im Geschäft oder zur Hauszustellung (Home Delivery) bereit.

Der Hub-and-Spoke-Ansatz stellt für jeden beteiligten Einzelhändler die einfachste und von Fall zu Fall effektivste und wirtschaftlichste Lösung dar, um die zügige Bearbeitung von Online-Bestellungen sowohl automatisiert als auch per Hand zu erledigen. Kein Einzelhändler braucht selbst Platz für automatisierte Logistikkomponenten bereitzuhalten, kann diese aber jederzeit über den Hub nutzen. Das Hub-and-Spoke-Modell bietet außerdem den Vorteil einer vergleichsweise einfachen Skalierbarkeit: Unter Verwendung modularer Automatisierungslösungen, die bei Bedarf erweitert werden können, steht den Nutzern eine bedarfsgerechte „Pay as you grow“-Lösung zur Verfügung.


Instore (Bolt-on)

In manchen Fällen, wie zum Beispiel bei sehr hohen Durchsatzanforderungen, ist es für Lebensmittelhändler zielführend, nicht oder nicht allein auf Automatisierungskapazitäten in einem zentralen Hub zurückzugreifen, sondern selbst entsprechende Systeme bereitzustellen: das Instore- oder auch Bolt-on-Modell (von „bolt-on“: ausgebaut). Dazu installiert der Händler seine neue Lager- und Kommissionierlogistik in bestehende oder erweiterte Geschäftsräume. Für das Instore-Konzept sind kompakte, robotergestützte Automatisierungstechnologien prädestiniert, die vergleichsweise wenig Platz erfordern und direkt im Laden positioniert werden können. 

Wie beim Hub-and-Spoke-Ansatz ist die Automatisierung bei Bolt-on für haltbare Waren vorgesehen, die nicht gekühlt werden müssen. Verderbliche und gekühlte Lebensmittel werden auch hier manuell zusammengestellt. Das Gleiche gilt für Langsamdreher (Artikel mit geringer Umschlagshäufigkeit), für die sich der schnelle Automatisierungsprozess nicht lohnt. 

Hauptvorteil des Instore-Modells gegenüber Hub-and-Spoke: Es werden Transportzeiten und -kosten gespart. Als besonders wirtschaftlich erweist sich Instore dann, wenn ein Lebensmittelhändler rund 80 Prozent seines Umsatzes mit Produkten erzielt, die automatisch gehandhabt werden können, und lediglich circa 20 Prozent mit Frischeprodukten und Langsamdrehern. Instore ist zudem vor allem für den Einsatz in Städten beziehungsweise Ballungszentren gedacht.


Micro-Fulfillment

Das Micro-Fulfillment-Center ist als Ergänzung zu Hub-and-Spoke- sowie Instore-Lösungen ausführbar oder als Ersatz für beide Modelle. Im Kontrast zu einem konventionellen Lebensmittelgeschäft ist das Micro-Fulfillment-Center eine kleine, für Kunden nicht begehbare, vollautomatische Logistiklösung. Hier steuert der Konsument lediglich eine Abholstation „am Bordstein“ an, an der er seine zuvor online bestellte Ware gesammelt entgegennimmt (Click & Collect). Auch Hauszustellungen sind vom Micro-Fulfillment-Center aus möglich. 

Micro-Fulfillment eignet sich aufgrund seiner Kompaktheit vor allem für die Umsetzung in dicht besiedelten Innenstädten. Es ist eine gute Option für reine Online-Lebensmittelhändler, die ohnehin keine physischen Geschäfte unterhalten. Diese Lösung ist aber auch für niedergelassene Einzelhändler eine attraktive Alternative, wenn deren traditionelles Geschäft stagniert und es teilweise oder vollumfänglich durch Micro-Fulfillment-Center ersetzt werden kann.

Fazit

E-Grocery-Verkäufe liegen im Trend, werden als Reaktion auf die Kontaktbeschränkungen während der Corona-Pandemie weiter ansteigen und vermutlich auch in mittel- bis langfristiger Zukunft ein wichtiger, wenn nicht der wichtigste Bestandteil des Lebensmitteleinkaufs durch Konsumenten sein. Deren Erwartungshaltung zielt auf eine schnelle Lieferung der online georderten Waren, möglichst noch am selben Tag der Bestellung. Als Alternative für die Hauszustellung dienen Abholstationen. 

Um dieser Entwicklung logistisch gekonnt zu begegnen, gibt es erfolgversprechende Konzepte. Sie unterstützen das bestehende Filialnetz beim E-Grocery-Fulfillment auf sehr effektive und effiziente Weise, setzen jedoch einen Faktor unabdingbar voraus: Die Automatisierung. Nur mittels Automationslösungen können die Produktivität, Dichte und Flexibilität erreicht werden, die erforderlich sind. Entsprechend innovative logistische Systeme bewähren sich bereits in modernen Lagern in den unterschiedlichsten Branchen. Sie sind gleichermaßen für das E-Grocery-Fulfillment prädestiniert und deshalb eine lohnende Investition in kommende Zeiten.

Mehr zum Thema gibt es auf der Website von Swisslog.


Christian Baur

Über den Autor: Dr. Christian E. Baur ist seit 2015 CEO von Swisslog und Mitglied des KUKA Executive Committees. In seiner bisherigen Funktion als CEO war er maßgeblich an der Transformation von Swisslog zum Vorreiter für Software-Lösungen im Supply Chain Management und zum Spezialisten für daten- und robotergetriebene Logistik- und Automations-Lösungen beteiligt. Außerdem steigerte er die globale Präsenz von Swisslog, sodass das Unternehmen derzeit in mehr als 50 Ländern erfolgreiche Projekte mit Partnern wie Coca-Cola, Arla Foods, IKEA oder Alnatura umsetzt.